Quellen zur Geschichte der Juden in den norddeutschen Bistümern (1273-1347)

Zurück zur Übersicht

273 Quellen in diesem Teilcorpus. Sie sehen die Quelle 198.

Norddeutschland 1, Nr. 198

1339 Januar 6, Wismar

Das Ratswillkürbuch der Stadt Wismar berichtet unter der Überschrift Malitie, nequitie, exorbitaciones et iniurie civibus et civitati facte et illate in der Nacht zum Epiphaniefest des Jahres 1339 folgenden Vorfall:

Der Knappe Heine Behr wurde auf Geheiß des Fürsten von Mecklenburg durch die Wismarer Ratsherren in Gewahrsam genommen. Trotzdem gelangte er nach Mitternacht in das Haus des Juden und Wismarer Bürgers Danis, nachdem ihm die Amme des Sohnes des Juden die Tür geöffnet hatte, welche nach Enthüllung ihrer Missetat [später] verbrannt wurde. Zusammen mit seinen Helfern nahm Heine Behr den Juden aus seinem Bett, legte ihm nur einen Mantel um und führte ihn über die Latrine der Schmiede. Dort legte er einen Pfahl nieder, band dem Juden einen Strick um die Seite und ließ ihn absteigen. Nach ihm stieg er selbst mit seinen Helfern hinunter, legte denselben Juden über ein Pferd, führte ihn an einen Ort seiner Wahl weg und hielt ihn lange gefangen. Die Wachen [der Stadt Wismar] beobachteten die Entführung und riefen die Ratsherren und Bürger zusammen. Am Ort des Juden zusammengekommen nahmen sie Hughold Behr, den Bruder des Heine, Heine von Stralendorf, Markwart, den Sohn des Ficke von Stralendorf, und Gödeke Pren von Schimm, seine Verwandten, fest. Alle befanden sich in der Stadt, waren mit Heine den ganzen vorangehenden Abend in der Schenke gewesen und waren vermutlich zu Mitwissern desselben gemacht worden. Nachdem diese für die beiden Anteile des Fürsten in Haft genommen worden waren, fand sich endlich eine ehrenvolle Beilegung: Anno domini in nocte festiva Epiphanie domini (1) Heyno Bere, famulus, erat ad peticionem domini mei Magnopolensis per consules securatus. Illo non obstante pervenit in domum Danyses iudei (2), concivis tunc nostri, post mediam noctem, nutrice pueri dicti iudei sibi ianuam aperiente, que nutrix suo maleficio patefacto cremabatur. Et cum suis consociis accepit iudeum de lecto suo et ipsum induebat sola una iopa et ipsum duxit super privatam fabrorum et deposuit unam (!) postem et funem sibi ligavit ad latus et ipsum descendere fecit, et post ipsum personaliter cum suis sociis descendebat et eundem iudeum posuit super equum unum et duxit ipsum, quorsum volebat, et diu tenuit ipsum captivatum. (3) Vigiles vero huius deportacionem videntes, consules et cives cum clamoribus excitarunt, qui convenientes in locum dicti iudei captivarunt Hogholdum Beren, fratrem Heynonis predicti, Heynonem de Stralendorpe et Marquardum, filium domini Vickonis de Stralendorpe, et Ghodekinum Preene de Schymme (4), avunculos suos, qui omnes tunc erant in civitate et fuerunt cum Heynone per totum vesperem precedens in taberna et forsan conscii ipsius facti. Hiis pro utraque parte domini detentis (5), tandem gloriosa composicio placitabatur. (6) MᵒCCCᵒXXXIX (7).

(1) 1339 Januar 6. Die Jahreszahl fehlt an dieser Stelle; vgl. Anm. 7.

(2) Zu Danis vgl. auch NO01, Nr. 175, NO01, Nr. 176, NO01, Nr. 177, NO01, Nr. 183, NO01, Nr. 185, NO01, Nr. 188, NO01, Nr. 189, NO01, Nr. 190, NO01, Nr. 191, NO01, Nr. 195, NO01, Nr. 194, NO01, Nr. 193, NO01, Nr. 192 und NO01, Nr. 208. Möglicherweise ist Danis mit dem ebenfalls für Wismar belegten Juden Daniel (NO01, Nr. 247 und NO01, Nr. 252) identisch.

(3) Über die Hintergründe schweigt sich die Quelle aus. Eine Auseinandersetzung in einer Schuldsache, in welche der Jude Danis als Gläubiger fungierte, ist aber wahrscheinlich.

(4) Vielleicht handelt es sich hier um einen Schreibfehler; in der zugehörigen Urfehde (NO01, Nr. 199) wird deutlich, dass es sich um Gottschalk Pren von Steinhaus handelt.

(5) Was mit den beiden Anteilen des [Landes-] Herrn gemeint ist, bleibt unklar. S. auch die Übersetzungen in der Sekundärliteratur.

(6) Vgl. die Urfehden in NO01, Nr. 201, NO01, Nr. 200 und NO01, Nr. 199.

(7) Nach MUB 9, Nr. 5932, S. 166, Anm. 1, war die Jahreszahl im damals noch vorliegenden Original des Ratswillkürbuches nachgetragen, die Crull'sche Abschrift vermerkt das allerdings nicht. Anhand der der Abschrift vorangehenden Beschreibung wissen wir jedoch, dass die Entführung des Juden auf Lage V und in der Hand von Nikolaus Swerk geschildert wurde, der das Schreiberamt am 25. September 1338 übernommen hatte (Liber parvus civitatis, fol. 67r) und 1340 das Rats-Willkürbuch anlegte. Dieser gibt also wohl Selbsterlebtes wieder; vgl. Chronik Heinrichs von Balsee, S. 177.

Überlieferung:

Wismar, StadtA, Ratswillkürbuch, fol. 55r, Orig. (Kriegsverlust), lat., Perg.; ebd., Abt. VI, Rep. 1 D (1853), fol. 55r.

Kommentar:

Das Wismarer Ratswillkürbuch, ein kleiner Folioband mit 69 Pergamentblättern, der 1340 angelegt worden ist, ist am Ende des 2. Weltkrieges verlorengegangen. Der das Wismarer Archiv ehrenamtlich leitende Mediziner Friedrich Crull fertigte allerdings 1853 eine seitengetreue Abschrift an, der er eine Beschreibung der Handschrift vorangehen ließ; vgl. MUB 1, S. LI; Düsing, Stadtarchiv (1969), S. 59.

Daneben soll der Vorfall auch Aufnahme in die Ende des 14. Jahrhunderts von den Bürgermeistern der Stadt Wismar beim Ratsnotar und Stadtschreiber Heinrich von Balsee in Auftrag gegebenen Chronica nova Wismariensis gefunden haben. Das Manuskript dieser nie fertig gestellten Chronik ist heute verloren und nur in den von Dietrich Schröder überlieferten Auszügen bekannt, die Crull zur mutmaßlichen Rekonstitution der Chronik verwandte (Chronik Heinrichs von Balsee). Der Eintrag zur Sache lautet dort: Anno domini MCCC [nur B: XXXIX] in nocte festiva epiphanie domini. Heyno Bere erat famulus ad peticionem domini Magnopolensis per consules securatus. Illo non obstante pervenit in domum Danies [B: Danyses] iudei, [nur B: concivis nostri tunc] post mediam noctem nutrice pueri ipsius [B: dicti] iudei sibi ianuam aperiente, que nutrix suo maleficio patefacto cremabatur, et cum suis consociis accepit iudeum de lecto suo et induebat eum solum una iopa ducens eum ad necessarium fabrorum deponensque ibi unum asserem et ligans funem iudeo ad latus [et] ipsum descendere fecit descendensque postea cum suis servis (!) ponit eundem iudeum super equum ducens eum, quorsum voluit [B: ipsum induebat sola una iopa et ipsum duxit super privatam fabrorum et deposuit unam postem funem sibi ligavit iudeo ad latus et ipsum descendere fecit et post ipsum personaliter c. s. s. descendebat et e. i. posuit super equum et duxit ipsum quorsum volebat], et diu tenuit ipsum captivatum. Vigiles vero huius deportacionem audientes [B: videntes] consules et cives cum clamoribus excitarunt, qui convenientes in domum predicti [B: locum dicti] iudei captivarunt Hugholdum Beren, fratrem Heynonis predicti, Heynonem de Stralendorp et Marquardum, filium domini Vicconis Stralendorp …, Godekinum Preen de Scimme [B: et Prene Schymme], avunculos suos, qui omnes tunc erant hic in civitate et fuerunt cum ipso Heynone per totum vesper precedens in taberna et forte [B: forsan] conscii ipsius facti. Hiis pro utraque parte diu detentis tandem placitabatur composicio gloriosa [B: gl. c. pl.]. Zur Chronik (und Schröders Exzerpten): Chronik Heinrich's von Balsee, S. 165-180 und Wriedt>, Geschichtsschreibung (1987), S. 412-416. Aufgrund der unterschiedlichen Schröder'schen Textgestaltung - Schröder, Band (1741), S. 1206 f. (oben PM) und seinem inzwischen verlorenen Ausgangsmanuskript Ausführliche Beschreibung der Stadt und Herrschaft Wismar [oben B] - ist der Originaltext der Chronik zwar nicht mehr hundertprozentig zu rekonstruieren, doch aufgrund der großen Ähnlichkeit zur Eintragung im Ratswillkürbuch bestehen zwei Möglichkeiten: Heinrich von Balse selbst hat für seine Chronik aus dem Ratswillkürbuch geschöpft oder der Eintrag Schröders beruht gar nicht auf Heinrich von Balses Chronik, sondern auf dem Ratswillkürbuch. Letzteres scheint sogar wahrscheinlicher, da Schröder in Papistisches Mecklenburg selbst nur unbestimmt von einem alten Manuskript spricht und ansonsten nur näher auf das Genealochronicon Mecklenburgicum, ad a. 1339 (Sp. 290) von Latomus verweist, das bei der Benennung seiner Quelle ('Wismar. Urk.') ebenfalls ungenau geblieben ist. Vgl. Chronik Heinrich's von Balsee, S. 178. Die vom MUB 9, Nr. 5932, S. 165 f. hergestellte Verknüpfung von Schröder und der Chronica nova Wismariensis (der Crull für seine 'Zusammenstellung' der Fragmente gefolgt ist) ist hingegen reine Vermutung. Crull selbst hat diesem Vorbehalt zumindest Erwähnung getan. Vgl. Chronik Heinrichs von Balsee, S. 167 f.

(Johannes Deißler) / Letzte Bearbeitung: 18.06.2021

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2020, NO01, Nr. 198, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/NO01/NO-c1-0080.html (Datum des Zugriffs)

Lizenzhinweis

Die Datensätze stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) Lizenz und können unter Berücksichtigung der Lizenzbedingungen frei nachgenutzt werden. Sofern nicht anders angegeben, sind die verwendeten Bilder urheberrechtlich geschützt.

Zurück zur Übersicht