Quellen zur Geschichte der Juden im Bistum Konstanz (1273-1347)

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Bm. Konstanz 1, Nr. 172

1332 [März 4]

Der Lindauer Franziskaner Johann von Winterthur schreibt: Im Jahre 1331 (1) begingen die Juden in Überlingen (Úberlingen) ein grausames Verbrechen. Einen mehrere Tage lang vermissten christlichen Jungen fand man außerhalb der Stadt in einem Brunnen. Als man den Knaben in die Stadt trug, wurde die Vermutung, dass dieser von Juden umgebracht worden sein könnte, anhand der auffälligen Stich- und Schnittwunden an Eingeweiden und Adern zur Gewissheit. Daraufhin trug man den Leichnam vor die Häuser der Juden, wo die Wahrheit endgültig offenbar wurde, als der Leichnam zu bluten begann. Ohne Kaiser Ludwig zu Rate zu ziehen oder das Urteil seines Vogtes abzuwarten - wegen der aus finanziellen Erwägungen zu erwartenden Nachsicht gegenüber den Juden -, beschloss man aufgrund der eindeutigen Zeichen kurzerhand, sämtliche Juden umzubringen. Damit keiner die Flucht ergreifen konnte, bedienten sich die Bürger (burgenses) einer List und lockten sämtliche Juden in ein hohes Steinhaus. (2) Nachdem diese in dem oberen Teilen des Hauses eingeschlossen worden waren, legte man im Erdgeschoss Feuer. Unter Anstimmung eines Gesangs verbrannte ein Teil der Juden im Obergeschoss des Hauses, während diejenigen, die sich auf das Dach geflüchtet hatten, Balken und Steine, aber auch Messer, Schwerter und Spieße (3) in die dicht um das Haus gedrängte Menschenmenge warfen. Auf wundersame Weise (quod mirabile dictu) wurde jedoch niemand verletzt. Als das Feuer schließlich auch das Dach erreichte, stürzten sich einige Juden hinab, woraufhin sie von den Christen ermordet und verstümmelt wurden. Es zeigten sich noch weitere Zeichen für die Unschuld des Knaben und die Bösartigkeit der Juden; denn als das Haus in Flammen stand, blieben die angrenzenden Häuser unversehrt. Es sollen mehr als 300 Juden ermordet worden sein (ut fertur). Darüber hinaus soll (Item fertur) ein nur dem Namen und nicht der Sache nach christlicher (katholicus) Knecht der Juden, er war Wächter des Judenfriedhofs (custos cimeterii ipsorum), der Tat beschuldigt worden sein. Dieser soll daraufhin ausgerufen haben, dass ihn der Teufel in der folgenden Nacht erwürgen solle, wenn er Schuld am Tode des Jungen trage, was denn auch tatsächlich eintrat. Er war von den Juden dafür bezahlt worden, dass er den Leichnam beseitigte, woraufhin er diesen in dem nicht mehr frequentierten Brunnen ablegte und mit Sand und Lehm bedeckte. Der ermordete christliche Knabe bewirkte in der Folgezeit zahlreiche Wunder an Kranken. (4) Die Bürger von Überlingen, die in der Angelegenheit keine Rücksprache mit dem Kaiser genommen hatten, wurden von diesem bestraft. Sie mussten eine Zahlung leisten und einen Teil der Stadtmauer abbrechen. (5)

(1) Zur Datierung auf 1332 März 4 vgl. den Kommentar zu diesem Regest.

(2) In späteren Quellen wird dieses steinerne Haus mit der Synagoge identifiziert; vgl. Löwenstein, Geschichte, S. 5.

(3) Demnach dürften zumindest einige Juden das steinerne Haus bewaffnet aufgesucht haben.

(4) Der in chronikalischen Quellen des 15. Jahrhunderts als 'Guter Ulrich' bezeichnete Knabe soll der späteren Überlieferung zufolge im Franziskanerkloster beigesetzt worden sein, ehe er in die bei dem Brunnen, wo er aufgefunden worden sein soll, errichtete Kapelle transferiert wurde; vgl. Stern, Beiträge Bodensee (1887), S. 305.

(5) Am 8. Juni 1332 erklärte Kaiser Ludwig, mit den Bürgern von Überlingen wegen der Ermordung der Juden verschiedene, nicht näher angegebene Vereinbarungen getroffen zu haben. Darüber hinaus forderte er die Bürger auf, sich mit den überlebenden Juden hinsichtlich des Besitzes der Getöteten zu einigen (KN01, Nr. 174). Zwei Jahre später mahnte Kaiser Ludwig die Überlinger, den dortigen Juden ihre Rechte am Erbe der ermordeten Glaubensgenossen nicht vorzuenthalten (KN01, Nr. 185).

Überlieferung:

Zürich, Zentralbib., Ms. C 114 d, S. 74 f., Orig. (Mitte 14. Jh.; Autograph des Verfassers), lat., Papier; zur weiteren handschriftlichen Überlieferung vgl. Chronica Iohannis Vitodurani, S. XXXI-XXXVII.

Kommentar:

Zu Johannes von Winterthur und seiner Chronik vgl. ###CP1-c1-007s###. Der nicht immer zuverlässig datierende Franziskanermönch Johannes setzt die Überlinger Ereignisse ohne nähere Angaben in das Jahr 1331. Verschiedene chronikalische Nachrichten des 15. und 16. Jahrhunderts geben konkrete Daten für das Geschehen wieder, die jeweils zwischen dem 1. und 16. März 1332 liegen; vgl. dazu detailliert Stern, Beiträge Bodensee (1887), S. 219 f., Anm. 19, sowie KN01, Nr. 170. Die einzige relativ zeitnahe Quelle stammt aus einer hebräischen Handschrift der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in der der Schreiber den Tod seiner Tochter anlässlich des Überlinger Pogroms vom 4. März 1332 beklagt; vgl. KN01, Nr. 171.

(Jörg R. Müller) / Letzte Bearbeitung: 29.07.2020

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2020, KN01, Nr. 172, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/KN01/CP1-c1-00cb.html (Datum des Zugriffs)

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